von Jürgen Chrobog,
deutscher Botschafter in den USA und Staatssekretär des Auswärtigen a.D., Präsident des Europäischen Senates-Politik der Wir Eigentümerunternehmer, Partner Berlin Global Advisors, Beraterstab Consileon Business Consultancy, Karlsruhe
Ein Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union zeichnet sich ab. Putin hat persönlich dazu seinen Beitrag geleistet. Es kommt für die Zukunft der Gemeinschaft sehr darauf an, wie die Bedingungen sein werden, unter denen sich dieser Beitritt vollzieht. Der Druck aus Kiew ist seit Jahren hoch. Dieser Wunsch fand in der EU immer nur eine geteilte Zustimmung. Alle wussten, dass Kiew darin einen Schritt zur Mitgliedschaft im transatlantischen Bündnis sah. Gerade darin lag für Deutschland und andere EU-Länder das Problem.
Hans-Dietrich Genscher sah die Zukunft der Ukraine in ihrer Brückenfunktion zwischen Kontinentaleuropa und Russland. Henry Kissinger teilte diese Auffassung und warnte davor, die Ukraine zu einem Vorposten einer Militärallianz zu machen. Auch heute sollten beide Entwicklungen klar getrennt bleiben, wenn es überhaupt zu einem Friedensschluss kommen sollte. Für eine Friedensordnung in Europa, sind Militärbündnisse auf Dauer nicht besonders tragfähige Grundlagen. Sie führen eher zu einer Verfestigung der Blöcke, vertiefen die Spaltung und erhöhen die Spannungen. Eine Truppenverlegung an die Grenze zwischen der Ukraine als NATO-Mitglied und Russland würde eine neuen Eisernen Vorhang entstehen lassen. Bei der Reichweite heutiger Waffen nützt auch eine demilitarisierte Zone nicht viel.
Es ist zu verstehen, dass man der Ukraine wegen des Leids, was ihr durch Russland zugefügt wurde, so weit wie möglich im Beitrittsverfahren zur Europäischen Union entgegenkommen möchte. Vor einem übereilten Verfahren kann jedoch nur gewarnt werden. Bestehende Probleme zum Beispiel bei Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Menschenrechten, Korruption dürfen nicht wie bei der letzten Osterweiterung von der EU beiseitegeschoben werden, in der Hoffnung, die europäische Gesinnung würde sich mittelfristig in allen Beitrittsstaaten von selbst durchsetzen. Wir sehen fast ungläubig zu, was sich in unserer Nachbarschaft zurzeit entwickelt. Es müssen Bedingungen geschaffen werden, die die Sicherheit potenzieller Beitrittskandidaten erhöhen. Gleichzeitig muss ausgeschlossen werden, dass wieder alte Verhaltensmuster zurückkehren, ohne ernste Sanktionen befürchten zu müssen. Die Beispiele Ungarn und Polen dürfen sich nicht wiederholen.
Der große Fehler, den die EU im Zusammenhang mit dem Beitritt
Rumäniens, Bulgariens und der Slowakei gemacht hat, war, dass man deren Vergangenheit im Hinblick auf ihr Rechtssystem, vor allem die Korruption nicht stärker im Blick hatte. Das gilt auch für andere Beitrittsländer. Es hätte einer Sanktionsklausel bedurft, die auch einen mit Mehrheit zu treffenden Ausschluss von Mitgliedsstaaten ermöglicht hätte, wenn diese gegen die Grundwerte der Gemeinschaft verstoßen. Aber das alles ist verschüttete Milch und heute nicht mehr revidierbar. Für den Fall einer nächsten Erweiterungsrunde müssen entsprechende Konsequenzen vorgesehen werden. Die Ukraine ist nicht der letzte Staat, der den Beitritt anstrebt und nicht der schwierigste.
Die Erfahrungen mit der Ukraine waren vor dem Krieg nicht ermutigend. Im internationalen Krisen-Ranking stand sie auf Platz 122. Das ukrainische Verfassungsgericht hatte noch 2014 ein Urteil gefällt, das zwei zentrale Ziele der Revolution dieses Jahres obsolet machte: die effektive Bekämpfung der Korruption und die Ausrichtung der Ukraine nach Westen. Es erklärte den öffentlichen Zugriff auf die elektronischen Vermögensdeklarationen von Beamten und Politikern für verfassungswidrig und untersagte der dafür zuständigen Nationalen Agentur zur Verhinderung der Korruption, diese zu überprüfen. Damit wurde der Kampf gegen die Korruption mit weitreichenden Folgen für die Gesellschaft fast unmöglich gemacht. Begonnene Antikorruptionsverfahren endeten ohne Entscheidung. Die Zusammenarbeit mit internationalen Institutionen ist seitdem gefährdet.
Es gibt noch zahlreiche ukrainische Oligarchen, die Geld und Einfluss retten konnten. Diese werden versuchen, an die Fleischtöpfe zurückzukehren. Statt über eine Beschleunigung des Beitrittsverfahrens nachzudenken, sollten wir uns überlegen, wie und mit welchen Formulierungen in den zukünftigen Beitrittsverträgen wir eine derartige Entwicklung durch strikte Kontrolle und einen entsprechenden Sanktionsmechanismus verhindern können. Die Gefahr, dass die Korruption erneut zu einem Problem wird, muss realistisch eingeschätzt werden. Die riesigen Finanzmittel, die für den Wiederaufbau des zerstörten Landes zur Verfügung stehen, werden Profiteure anziehen wie das Licht die Motten. Unsummen werden in dunklen Kanälen versickern und die Rechtsstaatlichkeit aushöhlen. Wie wird die EU, die die größten Finanzleistungen erbringen muss, mit diesem Problem umgehen. Die Wiederaufbaujahre werden schwierig.
Diese Bemerkungen ändern nichts an der Bewunderung für Präsident Selenskyij und das ukrainische Volk. Ihre Leistungen und Opfer sind unglaublich. Aber die Europäische Union sollte inzwischen gelernt haben, sich nicht allein von Zukunftshoffnungen leiten zu lassen. Schon die bisherigen EU-Mitglieder haben unterschiedliche politische Vorstellungen und Interessen. Notbremsen müssen eingezogen werden, um falsche Entwicklungen zu verhindern. Weitere Rückschritte bei Demokratie und Menschenrechten bei gleichzeitig wachsender Zahl von Mitgliedsstaaten können wir nicht verkraften.
Berlin, 02.06.2022